seliger-online 20.3.2023

Veröffentlicht am 21.03.2023 in Allgemein

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Sudetenland ist abge...hängt

seliger-online diskutiert mit dem Historiker Dr. Andreas Wiedemann

Die erste seliger-online-Ausgabe 2023 ermöglichte den 24 Teilnehmer von Bremen bis Linz und von Wiesbaden bis Prag am 20. März ein interessantes Gespräch mit dem Historiker Dr. Andreas Wiedemann zum Thema seines Buches „Komm mit uns das Grenzland aufbauen! Ansiedlung und neue Strukturen in den ehemaligen Sudetengebieten 1945-1952“. Der Historiker und ehemalige Radio-Prag-Redakteur ist seit 2007 Pressereferent der Österreichischen Botschaft in Prag und befasste sich in seiner Doktorarbeit mit diesem besonderen Aspekt sudetendeutscher Geschichte. Die Bundesvorsitzende der Seliger-Gemeinde Christa Naaß moderierte die Online-Veranstaltung. Im Anschluss folgte die ´Abendschule´ mit Dr. Thomas Oellermann zum Thema: „Russland und die sudetendeutsche Sozialdemokratie“.
 

Christa Naaß stellte eingangs den Gesprächspartner Andreas Wiedemann kurz vor und bestritt den Einstieg ins Thema mit einem Zitat aus der Rede des Ministerpräsidenten der Tschechischen Republik, Petr Necas, vor dem Bayerischen Landtag am 21.3.2013: „Nach dem Krieg wurden die Grenzgebiete für eine lange Zeit vollkommen entwurzelt, ihre Identität wurde zum Schaden der Tschechen und Deutschen gewaltsam geändert. Das tschechische Grenzland wurde nach dem Krieg vom Staat übernommen und dieser siedelte hier Menschen an, die in der Unsicherheit kamen, dass vielleicht eines Tages jemand anderen auf ihre Stelle kommt. Die Landschaft hat ihr Gedächtnis verloren, die Kultur verschwand, viele architektonische Denkmäler wurden zerstört“. Damit sei das Thema bestens umrissen, so Naaß, die anschließend Andreas Wiedemann um sein Statement bat.

„Was passierte als die Deutschen weg waren?“ – so lautete eine Fragestellung seines Doktorvaters, erklärte der Historiker Andreas Wiedemann, der selbst keinen sudetendeutschen Hintergrund hat. Und es habe ihn interessiert, wie sich „nach der größten Bevölkerungsbewegung in der Geschichte der Böhmischen Länder“, der Umsiedlung von rund 5 Millionen Menschen (ca. 3 Millionen Deutsche wurden vertrieben und ca. 2 Millionen „Tschechen“ neu angesiedelt) eine neue Gesellschaftsstruktur aufbauen konnte. Somit hatte er das Thema seiner Doktorarbeit gefunden und begann zu forschen.

Wiedemann berichtete aus seinen Forschungsergebnissen, dass die Voraussetzung für diesen Gesellschaftsumbau die Vertreibung der Deutschen, die Konfiszierung ihres Eigentums und die Neuverteilung an Ansiedlungswillige gewesen sei. Gleichzeitig zur „wilden Vertreibung“ in den Nachkriegsmonaten, hätte es auch eine „wilde Besiedelung“ gegeben, so der Historiker. „Bis Ende 1945 wurden ca. 650.000 Deutsche aus dem Grenzland ausgesiedelt und es haben sich ca. 800.000 Neubürger, vor allem aus dem tschechischen Binnenland und der Hauptstadt Prag (92.000), neu angesiedelt“. Damals, so Wiedemann weiter, habe das ehemalige Sudetenland die höchste Bevölkerungsdichte aller Zeiten gehabt.  Die Neuankömmlinge waren u.a. Menschen aus der Slowakei, unter ihnen viele Roma, und Re-Imigranten aus Rumänien, Bulgarien, aber auch 11.000 aus Österreich und 5.000 aus Deutschland.

Auf Basis der Beneš-Dekrete wurde der Besitz der Deutschen entschädigungslos konfisziert, von „nationalen Verwaltern“ betreut und zu niedrigen Preisen an die Neuankömmlinge abgegeben. Das war natürlich ein Lockmittel um Menschen in die Grenzregion zu bringen, dem viele junge und sozialschwache Menschen mit der Aussicht auf ein möbliertes Haus, eine kleine Hofstelle oder die Leitung eines größeren Landwirtschaftlichen Betriebes verfielen. Es lockte aber auch etliche Glücksritter an, die nur auf das schnelle Geld aus waren, so der Referent. Die Kommunisten, so Wiedemann weiter, nutzen dies aber auch gezielt, um unliebsame Bevölkerungsgruppen von vorneherien auszugrenzen, so Wiedemann weiter.

Der enorme Bevölkerungsverlust durch die Vertreibung konnte nicht ausgeglichen werden. Es herrschte Arbeitskräftemangel. Rund 8.000 Industriebetriebe wurden geschlossen oder in die Slowakei verlagert, 70.000 Gewerbebetriebe gingen gänzlich verloren.

Ziel der Vertreibung, so der Historiker, war die völlige Entgermanisierung und Tschechisierung der Region. Es sollte ein Nationalstaat ohne ethnische Minderheiten entstehen. Deutsche Ortsnamen wurden verboten, deutsche Denkmäler abgerissen oder versetzt und die verbleibenden Deutschen sollten ihre Vor- und Familiennamen tschechisieren. Groß war das Misstrauen der Neuankömmlinge gegenüber allem Deutschen, vor allem gegen Deutsche in Mischehen und deren Ehepartner. Wiedemann berichtete, dass es sogar Pläne gegeben habe, die einheimischen Tschechen ins Binnenland umzusiedeln, hatten sie doch zu starken Kontakt zu den Deutschen und müssten auch neu tschechisiert werden.

Doch aus der angestrebten Homogenisierung wurde nichts. Neben den verbleibenden Deutschen gab es in manchen Orten Menschen aus bis zu neun verschiedenen Herkunftsländern. Sie waren zwar alle offiziell „Tschechen“, stammten aber aus verschiedenen Ländern, aus verschiedenen Kulturen und sprachen sogar verschiedene Sprachen.

Die kommunistische Partei Tschechiens nutzte die Vertreibung und Neubesiedelung um ihre Strukturen aufzubauen und zu festigen, beeinflusste und steuerte den Prozess. Sie wurde von der neuen Bevölkerung als Garant des neuen Besitzes gesehen und so verwundert es nicht, dass bei den Wahlen 1946 im Schnitt 40 Prozent, in den Sudetengebieten 53 bis 60 Prozent die Kommunisten wählten, berichtete Andreas Wiedemann weiter.

Die freiwilligen Neusiedler, so stellte sich aber schnell heraus, waren mit der neuen Situation, vor allem in der Landwirtschaft und mit dem Erhalt der Häuser und Höfe oft überfordert. Nicht zuletzt wegen des strengen Klimas in der Region. Nicht wenige gaben auf und überführten ihren Hof in eine Produktionsgenossenschaft. In den 50er Jahren kamen Zwangsansiedlungen von Ärzten oder Lehrern usw. hinzu, so Wiedemann.

Die verlorene Zukunft

Die anschließende Diskussion eröffnete Christa Naaß mit der Frage, wie die Fachöffentlichkeit auf das Buch* von Andreas Wiedemann reagiert habe. Der Autor erklärte hierzu, dass sowohl die deutsche (2007) als auch die tschechische Ausgabe (2017) mittlerweile vergriffen seien. Die Resonanz sei in Tschechien aber deutlich höher und sehr positiv gewesen. Fernsehauftritte, Radio- und Zeitungsinterviews folgten. „In den letzten 10 Jahren“, so Wiedemann, „hat das Interesse an der Vertreibung und ihren Folgen vor allem bei jungen Leuten, egal ob Wissenschaftler oder Laien, deutlich zugenommen“. Helena Päßler ergänzte, dass dies doch bis heute so sei.

Untermalt wurde die Diskussion von mehreren Beiträgen der Teilnehmer. So erinnerte Walter Annuß sich, dass bereits Mitte der 60er Jahre, als er in Prag studierte, die Folgen der Vertreibung diskutiert wurden. Nach 1968 sei dies aber zum Stillstand gekommen und erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 konnte darüber wieder geredet werden.

Ein Teilnehmer bat, den Begriff „wilde Vertreibung“ nicht mehr zu benutzen. Es seien keine spontanen Aktionen der Bevölkerung gewesen, sondern gezielte Maßnahmen der Armee mit Zustimmung der Staatsführung um Fakten zu schaffen, bevor die Potsdamer Konferenz überhaupt tagen konnte. Dem stimmte der Historiker uneingeschränkt zu.

Eine weitere Frage war, ob die Thesen aus dem Buch Wiedemanns in jüngerer Zeit wissenschaftlich überprüft wurden. Der Autor meinte ja, es gebe mehrere neue Forschungen, die einerseits die weiterhin hohe Fluktuation in der Region belegten, andererseits aber auch darstellten, dass eine gewisse Selbstverständlichkeit, eine gute Nachbarschaft sich entwickelt habe. Bei Untersuchungen von Ortschaften diesseits und jenseits der Grenze wurde festgestellt, so Wiedemann, dass auf der tschechischen Seite oft das „soziale Kapital“ fehle, was sich in der geringen Wahlbeteiligung, dem Darben der Vereine und der Gemeinschaft wiederspiegele. Daher auch die hohe Abwanderungsquote von neu Hinzugezogenen. Bis heute zeige das ehemalige Sudetengebiet in West- und Nordböhmen mit niedriger Wahlbeteiligung und dem Hang zu populistischen oder rechtsradikalen Kandidaten eine besondere Auffälligkeit

Mehrere Beiträge stellten aber auch den Wandel in den Beziehungen innerhalb der neuen Gesellschaft und zu den Deutschen dar. So z.B. die aktive Nachbarschaft in Böhmisch Kamnitz, worüber Helmut Schmidt berichtete. Bemerkenswert sei die Entwicklung, dass sich vor allem junge Menschen dafür interessierten, wer in ihren Häusern, in ihrem Ort in ihrer Gegend früher gelebt hat und was aus diesen Menschen wurde. Oftmals würde Kontakt zu den früheren Besitzern (bzw. deren Nachkommen) aufgenommen und es entstünden enge Kontakte und Freundschaften.

Albrecht Schläger erklärte, dass Bayern im Korridor Hof-Passau parallel zur Ent-Industriealisierung im Sudetengebiet viel gewonnen hätte. Es habe neue, gute Betriebsansiedlungen durch Sudetendeutsche, z.T. mit Weltruf gegeben. Was Tschechien an Zukunft verloren hat, habe vor allem Bayern, aber auch Hessen und Baden-Württemberg gewonnen. „Was im Sudetenland blieb war Ödnis und erst nach dem Beitritt zur EU sei mit viel Fördergeld neue Wirtschaftskraft angesiedelt worden“, so Schläger.

Das Gespräch mit Dr. Andreas Wiedemann in der Reihe seliger-online werden wir auf unserem YOUTUBE-Kanal präsentieren, die Abendschule können Sie jederzeit als Podcast anhören.

*Das Buch von Andreas Widemann, ist als kostenloses PDF unter folgendem Link abrufbar:https://we.tl/t-gnQzwMMyR3, die tschechische Ausgabe ist als eBook erhältlich.

Wir bedanken uns für die finanzielle Förderung der Veranstaltungsreihe 2023 aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages durch die Bundesregierung!

 
 

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