Nad Sázavou, nad Sázavou
Bei Einbruch der Dunkelheit wird der letzte Zug vor dem Tunnel hupen, der die Nachzügler nach Hause bringt, um zu schlafen; schalte das Lied aus und gib mir etwas zu trinken, ich möchte noch ein paar Sterne lesen, bevor ich schlafen gehe; dieser Fluss ist wie ein Märchen, was unsere Leute in der Hütte erzählten, in dem es einen Wald gab....
Wie auch bei den letzten beiden Studienfahrten war der Samstag „Exkursionstag“. Dieses Jahr machten wir einen Ausflug an die Sázava und zu verschiedenen Stationen im Prager Umland mit sozialdemokratischen bzw. sudetendeutschem Hintergrund.
So fuhren wir Samstagmorgens mit dem Zug vom Prager Hauptbahnhof nach Čerčany. Hier stiegen wir um in den Sázava-Pazifik, der größten Attraktion dieser Region. Der Sázava-Pazifik ist keine ganz „gewöhnliche“ Linie, obwohl sie für viele Bewohner von Jílové und Umgebung als Pendlerlinie nach Prag dient. Aber nur wenige Menschen fahren die ganze Strecke von Čerčany in die Hauptstadt. Sie erfordert Geduld: Die fünfzig Kilometer lange Strecke kann mit dem Zug in zwei Stunden zurückgelegt werden. Und für das richtige Erlebnis muss man das Glück haben, einen alten Doppelstockwagen mit Aussicht vom obersten Stockwerk zu finden.
Sázava-Pazifik – diese poetische Bezeichnung bekam die Eisenbahnstrecke 210 in Richtung Prag-Vršovice/Vrané nad Vltavou/Čerčany von Trampern bereits in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Auf der mehr als 100 Jahre alten Strecke fährt der Zug durch den Canyon des Sázava-Flusses mit seiner wunderschönen wilden Natur. Stromschnellen wühlen den Fluss auf, und an den Hängen des Tals kleben kleine Tramperblockhütten in der romantischen Landschaft. Der Höhepunkt der Strecke ist der Abschnitt Jílové u Prahy - Petrov, von dem aus man den Fluss Sázava fast aus der Luft betrachten kann. Der Zug durchfährt och über dem Tal mehrere Tunnel, und wenn man an der richtigen Stelle zurückblickt, sieht man hinter sich das ikonische Eisenbahnviadukt von Žampach - die zweithöchste steinerne Eisenbahnbrücke Mitteleuropas.
Die Bahn wurde vor allem wegen der Steinbrüche gebaut und die schönsten tschechischen Bahnhofskneipen sind ebenfalls Teil der Strecke. Der Fluss Sázava wird unter den Landstreichern immer noch der Goldene Fluss genannt: Hier wurde einst Gold geschürft, und auch die Goldminen um Jílový waren berühmt. Um sie herum entstanden bald Vagabundensiedlungen. Die wilde Natur und die Romantik des Wilden Westens lockten in den 1920er Jahren die ersten Tramps nach Posázaví. Ein Phänomen war geboren, das bis heute anhält: Wochenendausflüge in die Welt der Ferne, der Freiheit, der wunderbaren Abenteuer und der Freundschaft. Der Begriff „Tramps“ stammt aus den Büchern von Jack London, der von obdachlosen Landstreichern sprach.
Das Trampen war, ist und bleibt ein Teil des Lebens vieler Menschen in Tschechien. Beim Tramping geht es um Freiheit, Unabhängigkeit und Entdeckungslust, um eine ewige Reise, ein ewiges Umherziehen und eine ewige Suche. Seine Inspirationsquellen sind das Holzhandwerk, die Pfadfinderei und der amerikanische Wilde Westen. Kein Wunder also, dass sich auch der sportliche Tausendsassa Emmerich Rath hier wohlfühlte.
Emmerich Rath vor seiner Hütte – ein echter Tramp! – Bahnhof und Bahnhofsgasstätte in Luka pod Medníkem – Thomas Oellermann berichtet aus der Geschichte – Ein Bad in der Sázava
Luka pod Medníkem
Unsere erste Station war Luka pod Medníkem, wo wir in der Bahnhofsgaststätte zu Mittag aßen. Bereits in der Wartehalle am Bahnhof verwiesen ein paar Aushänge auf Emmerich Rath und auf der Geschichte des Trampings an der Sázava.
Thomas Oellermann berichtete, dass kein anderer als Emmerich Rath (1883-1962) an diesem Ort sein Wochenendhaus hatte (Wikipedia spricht von einer „Ranch mit großem Sportplatz“). Wir lernten die Person Emmerich Rath bereits beim Herbstseminar 2022 in Bad Alexandersbad mit dem Film „Das letzte Rennen“ kennen. Thomas Oellermann ergänzte unser Wissen um einige Anekdoten zu diesem bewundernswerten Menschen – u.a. dass er auch für den DFC Prag Fußball gespielt hat.
Ein paar Mutige machten sich dann zu Fuß auf einem unmarkierten Weg den Steilhang hinunter zum Fluß, der hier einen engen Canyon bildet. Die Trampsiedlung Dakota liegt etwa einen Kilometer flussabwärts, dort gibt es auch den obligatorischen Totempfahl. Die Siedlung Toronto liegt etwa 1,5 Kilometer flussaufwärts von Luka, sie ist das Herz des tschechischen Trampings.
Die Brücke von Davle – Filmplakat „Die Brücke von Remagen – Karsten vor der Bahnhofsgaststätte Remagen
Davle
Nachdem die Sázava rund 25 Kilometer südlich von Prag in die Moldau mündet, kommen wir zu unserer zweiten Station, zum kleinen Bahnhof von Davle mit einem wunderschönen Ausblick über die Moldau. Der tschechischsten aller tschechischen Institutionen, dem ländlichen Kleinbahnhof, hat der Schriftsteller Jaroslav Rudiš mit seiner Graphic-Novel-Trilogie Alois Nebel ein literarisches Denkmal gesetzt. Und es gehört eine – fast immer mit einer kleinen, von einem dunklen Holzzaun umrahmten Terrasse versehene – Bahnhofskneipe dazu. Immer einfach eingerichtet, schlicht, aber saugemütlich laden sie zum Rasten ein. Manche, wie eben die in Davle, führen ab und an sogar bessere als die üblichen Markenbiere. Zudem gibt es im Mahlzeitenangebot tschechische Klassiker (z.B. Utopenci). Und wer ein „kleines Bier“ bestellt, muss sich schon mal einen lustigen Kommentar gefallen lassen. Die Bahnhofskneipe in Davle heißt auch noch passend Hostinec Remagen (Gaststätte Remagen), in Erinnerung an das große historische Ereignis der Dreharbeiten zu einem US-Kriegsfilm 1968 in den Zeiten des Kommunismus! Gleich neben an entdeckt man eine grüne Fußgängerbrücke aus Eisen. Das ist die berühmte Davle-Brücke, The Bridge at Remagen (Die Brücke von Remagen).
Haus von Emanuel Viktor Voska in Zbraslav – Exilwohnung von Philipp Scheidemann
Zbraslav
Weiter ging es mit dem Zug zu unserer letzten Station nach Zbraslav am Prager Stadtrand. „Jedes Mal, wenn die Seliger-Gemeinde nach Prag kommt und ich mit ihnen herumlaufe, entdecke ich dank dem Historiker Thomas Oellermann etwas Interessantes aus unserer gemeinsamen Geschichte“, so Libor Rouček. Oellermann führte uns zu einem Haus in Zbraslav (Zitavskeho 499) in dem 1933-38 der deutsche Sozialdemokrat Philipp Scheidemann (1865-1939) im Exil lebte - der Mann, der am 9. November 1918 vom Balkon des Reichstages in Berlin die Republik ausgerufen hatte und der im Februar 1919 erster frei gewählter Ministerpräsident der Weimarer Republik wurde. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 war Scheidemann, den das rechtsextreme Lager über Jahre hinweg als maßgeblichen „Novemberverbrecher“ angefeindet hatte, stark gefährdet. Anfang März 1933 floh er nach Salzburg, dann in die Tschechoslowakei und über Frankreich und den USA nach Dänemark. Am 25. August 1933 wurde ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Seine älteste Tochter Lina verübte nach Misshandlungen durch Nationalsozialisten im Mai 1933 Selbstmord. Philipp Scheidemann starb am 29. November 1939 starb in Kopenhagen.
Das Haus war damals im Besitz einer weiteren sehr interessanten Person – es gehörte dem tschechischen Sozialdemokraten, Geschäftsmann, Soldat, Freund und Mitarbeiter T.G. Masaryka, Agent des US-Geheimdienstes und schließlich Gefangener des Kommunismus Emanuel Viktor Voska.
Anschließend ging es zurück nach Prag und der Abend endete in der Gaststätte Cihelna La Familia, im Stadtteil Karlín, dem ehemaligen Sitz der sozialdemokratischen Exilorganisation SOPADE.
Bei Einbruch der Dunkelheit wird der letzte Zug vor dem Tunnel hupen, der den verspäteten Zug nach Hause bringt, um zu schlafen, die Brombeeren haben wieder am Gleis geblüht, in der Sázava gibt es viele Fische und es soll sogar ein Indianer-Tipi geben, es ist gut hier angekommen zu sein.
Nad Sázavou, nad Sázavou …
Unsere Studienfahrt konnte nur mit der finanziellen Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds stattfinden. Wir bedanken uns herzlich dafür.